* 34 *
Das Herz schlug Tante Zelda bis zum Hals, als sie zusah, wie das Drachenboot in den Himmel stieg. Es war ein unglaublicher Anblick. Sie hatte das Boot schon einmal fliegen sehen, als es gegen DomDaniels Schiff, die Vergeltung, kämpfte. Doch damals hatte sie im Schein zuckender Blitze nur kurze Blicke auf das Boot erhascht. Jetzt segelte das Boot in den hellen Abendhimmel. Der goldene Rumpf glänzte im Sonnenlicht, und die mächtigen Flügel schimmerten in grünen und blauen Farbtönen. Der Anblick des Drachenbootes, das sie so viele Jahre gehütet hatte und das jetzt hoch über ihr flog, raubte ihr den Atem, und ihr Magen krampfte sich zusammen.
Doch es gab noch einen anderen, unangenehmen Grund, warum sich ihr Magen zusammenkrampfte. Als das Drachenboot vor dem Abheben durch den Mott gejagt war, hatte sie nämlich beobachtet, wie die verdächtige Wolke plötzlich vorrückte und ein blendend heller Feuerball aus ihr hervorschoss, genau in Richtung Boot. Sie hatte »Halt!« geschrien, doch niemand hatte sie gehört. Aber zum Anhalten war es für das Drachenboot ohnehin zu spät gewesen.
Sie hob die zersplitterten Überreste einer Brückenbohle auf, das einzige Trümmerteil, das auf ihrer Seite des Mott heruntergefallen war. Ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich. Das Holz war verkohlt und immer noch heiß, als sie es anfasste. Es war von einem Feuerblitz getroffen worden.
Vor Angst den Atem anhaltend, spähte sie in den Himmel. Das Drachenboot war noch gut zu sehen, denn es flog nicht schnell. Es war für gemächliche Langstreckenflüge gebaut, um Energie zu sparen. Mit gleichmäßigen Flügelschlägen und hoch erhobenem Kopf schwebte es majestätisch über den Marram-Marschen, und die kleine schwarze Wolke flitzte hinter ihm her. Tante Zelda bekam weiche Knie. Sie sank zu Boden und begann, an ihren Fingernägeln zu kauen. Das hatte sie seit damals, als sie auf das Ergebnis ihrer Hexenprüfung wartete, nicht mehr getan.
An Bord des Drachenbootes hatten nach dem geglückten Start alle erleichtert aufgeatmet. Tatsächlich hatte in den bangen Sekunden des Abhebens keiner den Feuerblitz bemerkt, und keiner ahnte, dass Simon Heap ihnen folgte. Jenna saß vorn im Bug, Septimus stand am Ruder, und Nicko, dem fliegende Boote unheimlich waren, hatte eben erst wieder die Augen geöffnet. Er blickte zu den Drachenschwingen, die gleichmäßig schlugen und erstaunlich viel Wind machten. Die Böen, die übers Deck jagten, und die Auf- und Niederbewegung des Bootes gaben ihm das Gefühl, auf hoher See zu segeln und nicht dreihundert Meter über dem Boden. Er wurde etwas entspannter und schaute sich um. Etwas stach ihm ins Auge.
»He, Sep«, sagte er, »da ist eine merkwürdige Wolke hinter uns.«
Septimus hörte die Besorgnis in Nickos Stimme, und obwohl er kaum anderswohin zu schauen wagte als geradeaus, drehte er sich um. Eine dunkelgraue Wolke näherte sich ihnen, und das mit einer Zielstrebigkeit, die überhaupt nicht zu einer Wolke passte.
»Simon!«, murmelte Septimus.
»Oh, Mist!«, sagte Nicko und blinzelte nach hinten in die Sonne, die tief am Himmel stand. »Glaubst du wirklich?«
»Es ist eine Dunkelwolke. Ich habe vorhin schon etwas gespürt, mir aber gedacht, das sei nur meine Angst vor dem Fliegen. Das Gefühl ist nämlich ganz ähnlich.«
»Was der wohl vorhat?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Septimus und warf noch einen Blick nach hinten. »Jedenfalls will er uns bestimmt nicht nur guten Tag sagen und zu dem schönen Boot beglückwünschen.«
»Hmm«, machte Nicko. »Vielleicht sollten wir etwas schneller fliegen.«
»Ich weiß nur nicht, wie. Ich könnte Jenna fragen ...« Doch ohne dass Septimus ein Wort zu sagen brauchte, begannen die Drachenflügel, schneller zu schlagen, und die Windböen, die ihnen ins Gesicht bliesen, schwollen zu einem Sturm an.
Aber die Wolke fiel nicht zurück, sondern folgte dem Drachenboot mit einer Leichtigkeit, als wäre sie durch ein Tau mit ihm verbunden.
»Da ist er!«, brüllte Nicko plötzlich gegen den Lärm, den die Flügel verursachten.
Septimus fuhr herum und sah, wie Simon gerade aus der Wolke herausflog. Eine Sekunde später schwebte er hinter ihnen, wobei er leicht ihr Tempo mithielt. Septimus fand, dass er irgendwie verändert aussah. Aber was war anders? Und dann wusste er es. Simon trug über dem rechten Auge, in das ihm 409 mit der Schleuder einen Stein geschossen hatte, eine Augenklappe. Der gute alte 409, dachte Septimus. Er lächelte.
»Dir wird dein blödes Grinsen vergehen, wenn du diesen ... diesen lächerlichen Mutanten nicht sofort landest!«, brüllte Simon zu Septimus herüber.
»Was sagt er, Nicko?«, rief Septimus.
»Keine Ahnung«, rief Nicko zurück. »Hab’s nicht verstanden. Einen Haufen Blödsinn, nehme ich an.«
»Liefert mir das Königsbalg aus, dann lass ich euch beide ziehen!«, brüllte Simon.
»Er brüllt immer noch«, rief Nicko.
»Ja. Behalt ihn im Auge, Nicko. Gib Acht, ob er nach einem Feuerblitz greift.«
»Hier oben würde er das doch nicht tun.«
»Und ob er würde.«
»Wenn ihr den Apparat nicht auf der Stelle landet«, brüllte Simon, »lasst ihr mir keine andere Wahl!«
Weder Septimus noch Nicko hatten bemerkt, dass Jenna zu ihnen ins Heck des Drachenbootes gekommen war. Sie war wütend.
»Jetzt habe ich aber die Nase voll.« Sie hob die Stimme und brüllte so laut, dass sie das Rauschen der Flügel übertönte, die gerade niedersausten und einen Windstoß entfachten, der ihr das Haar ins Gesicht blies.»Und zwar gestrichen voll!« Sie zog das magische Vergrößerungsglas aus der Tasche, das sie von der Camera obscura genommen hatte.
»Was ist das, Jenna?«, fragten Septimus und Nicko wie aus einem Mund.
»Das werdet ihr gleich sehen. Passt auf.« Sie hielt das Glas so, dass die Sonnenstrahlen zu einem hellen Lichtpunkt gebündelt wurden. Dann drehte sie es ganz langsam, bis der Lichtpunkt auf Simons Gesicht traf. Zunächst reagierte er nicht, doch urplötzlich riss er die Hand hoch und hielt sie sich vors Gesicht. Mit einem Schrei flog er zur Seite und sah sich um, um festzustellen, was ihn verbrannt hatte. Jenna versuchte, ihm mit dem Lichtpunkt zu folgen, aber er duckte sich, pendelte hin und her und suchte nach den Dunkelkräften, die ihn verfolgten, denn er hatte die Schwarze Magie des Glases gespürt.
Bald hatte er herausgefunden, woher sie kamen. »Du bist das!«, brüllte er, als er das Vergrößerungsglas in Jennas Hand sah. Bebend vor Wut zog er einen Feuerblitz aus dem Gürtel. »Das war deine letzte Tat«, schrie er.
Diesmal hörten sie ihn, und Sekunden später hörten sie auch den Feuerblitz. Ein lautes Grollen ließ die Luft erzittern, als ein weißer Feuerball aus Simons ausgestreckter Hand flog und auf das Drachenboot zuraste. Instinktiv warfen sich Jenna, Nicko und Septimus aufs Deck, obwohl sie wussten, dass es keinen Unterschied machte, wo sie waren, wenn der Feuerblitz traf. Kaum lagen sie auf den Planken, prallte etwas mit fürchterlicher Wucht gegen die Seite des Bootes. Der Drache hob erschrocken den Kopf, und das Boot wurde herumgerissen und neigte sich so weit zur einen Seite, dass die Besatzung übers Deck auf die andere Seite kullerte. Ein schreckliches Geräusch von zerreißendem Stoff und brechenden Knochen erfüllte die Luft, und dann geschah das, was sie am meisten fürchteten: Das Drachenboot stürzte ab.
Jenna zwang sich, den Kopf zu heben. Eine schwarze Rauchfahne flatterte hinter dem rechten Flügel des Drachen. Der Flügel selbst hing schlaff an der Seite herab, und es roch nach verbranntem Fleisch. Der unversehrte Flügel schlug wie wild und versuchte, das Boot wieder ins Gleichgewicht zu bringen und den freien Fall in die Marschen zu stoppen. Jenna klammerte sich an die Seite des Bootes und spornte den Drachen dazu an, in der Luft zu bleiben. Sie sah, wie er mühsam den verletzten Flügel hob, bis dieser, obwohl kraftlos und gebrochen, waagrecht in der Luft lag und als Stabilisator dienen konnte. Langsam richtete sich das Boot aus der Schräglage wieder auf, bis das Deck nur noch leicht geneigt und nicht mehr so steil wie ein Berghang war, aber sie verloren noch immer an Höhe. Die Jungen an der Ruderpinne zurücklassend, kroch Jenna über das Deck zurück zum Hals des Drachen.
Simons Lachen hallte unheimlich durch das Boot. Er hatte das Ziel zwar nicht so gut getroffen wie erhofft – was daran lag, dass er nur mit einem Auge sehen konnte –, doch der Drache war verwundet, und mit seinem nächsten Schuss würde er ihm vollends den Garaus machen. Er zog seinen dritten und letzten Feuerblitz aus dem Gürtel.
»Jetzt!«, flüsterte Jenna dem Drachen zu.
Der Schwanz des Drachen zuckte, und als Simon dicht heranflog, blitzte er plötzlich in der Sonne. Der goldene Stachel peitschte durch die Luft, traf Simon mit voller Wucht und schleuderte ihn in den Himmel. Wie ein Baseball, der aus dem Stadion fliegt, stieg er in einem perfekten Bogen ins Blau des Himmels, immer höher und höher, bis ihn, auf dem höchsten Punkt der Kurve, die Schwerkraft zurückforderte und der zweite Teil seines Fluges begann, der in einem ebenso perfekten Bogen bis hinunter zum Hundert-Fuß-Loch führte.
Merrin lieferte sich gerade ein Schreiduell mit Tante Zelda, als Simon Heap an ihm vorbeischoss und mit einem gewaltigen Platscher in das Loch sauste. Die Dusche mit braunem Schlammwasser hellte Merrins Stimmung kein bisschen auf. Er hatte es satt, dass Tante Zelda ihm ständig Vorschriften machte. Was ging es sie an, ob er ein Fernrohr hatte? Durfte er denn nichts für sich allein haben? Sie war genauso schlimm wie DomDaniel. Nein, sie war noch schlimmer. Bei DomDaniel hatte er wenigstens ein paar Dinge behalten dürfen – auch wenn es nur Dinge waren, die kein anderer gewollt hatte.
Der Streit zwischen ihnen war in dem Moment entbrannt, als Simon seinen letzten Feuerblitz schleuderte. Tante Zelda hatte verzweifelt weggesehen, als das laute Krachen die Hütte erbeben ließ, und dabei fiel ihr auf, dass drüben am Hundert-Fuß-Loch etwas in der Sonne blitzte. Sie sah, dass Merrin den Kampf durch das Fernrohr beobachtete. Dass er das Dunkelfernrohr benutzte, war schon schlimm genug, aber was sie wirklich in Rage brachte, war der Ausdruck auf seinem Gesicht – so glücklich hatte sie ihn noch nie gesehen. Er freute sich darüber, dass die drei Menschen, die sie auf der Welt am meisten liebte, jeden Augenblick tödlich abzustürzen drohten.
»Leg das verflixte Fernrohr weg!«, rief sie wütend zu ihm hinüber.
Merrin zuckte überrascht zusammen, hörte aber einfach weg. Etwas so Aufregendes hatte er seit Jahren nicht gesehen, und das wollte er sich nicht entgehen lassen.
»Ich möchte dieses Dunkelfernrohr keine Sekunde länger hier haben!«, schrie Tante Zelda. »Du wirfst das Ding jetzt sofort ins Wasser.«
»Nein, tue ich nicht«, hatte Merrin zurück geschrien und deswegen den Hieb des Drachenschwanzes nicht mitgekriegt. Aber weder er noch Tante Zelda verpassten den gigantischen Spritzer, den Simon Heap verursachte, als er jetzt zur Erde zurückkehrte und in den schwarzen Tiefen des Hundert-Fuß-Lochs verschwand.
Simon Heap tauchte tief hinab bis zum Grund, wo er sich verzweifelt durch einen Wald klebriger Marschgiftlingsblätter kämpfte. Fünfundfünfzig Sekunden später tauchte er wieder auf, nach Luft japsend und über und über mit verfaulten Schnecken bedeckt. Merrin wurde von dem Gestank beinahe schlecht, doch aus irgendeinem Grund fühlte er sich zu Simon hingezogen. Er streckte ihm die Hand hin und half ihm aus dem Wasser. Wie ein schleimiges Häuflein Elend sank Simon in das hellgrüne Gras auf dem Hügel und hustete ein paar Schnecken aus. Merrin setzte sich neben ihn und betrachtete diesen Fremden, der vom Himmel gefallen war. Vielleicht war das ein Zeichen. Vielleicht war er sein Retter. Vielleicht erlöste er ihn von Tante Zelda, die ihm ständig Vorschriften machte. Und von dem Kohl, den sie ihm jeden Tag vorsetzte. Bei dem Gedanken an Tante Zelda hob er schuldbewusst den Kopf, aber sie war in die Hütte gerannt und nirgends zu sehen.
Plötzlich setzte Simon sich auf, hustete einen Eimer voll Marschwasser aus und sah Merrin zum ersten Mal an.
»Wo hast du das her?«, fragte er.
»Was?«, fragte Merrin gekränkt. Warum redete ständig jeder mit ihm so, als ob er etwas verbrochen hätte?
»Das Fernrohr.«
»Von nirgendwo. Ich ... ich meine, ich habe es gefunden. Es gehört mir.«
Simon sah sich den Jungen genauer an. Ein ungewöhnlicher Bursche, sagte er sich. Könnte brauchbar sein. Aber was hatte er hier verloren, mitten in den Marschen, am Ende der Welt?
»Du wohnst wohl bei der alten Hexe, was?«, fragte er.
»Nein«, entgegnete Merrin beleidigt, als hätte ihm Simon einen ganz schlimmen Vorwurf gemacht.
»Aber natürlich. Wo sollst du denn sonst in dieser trostlosen Gegend wohnen?«
»Ja ...« Merrin gestattete sich ein Lächeln. »Es ist eine trostlose Gegend, nicht wahr? Diese blöde Hütte voll mit lächerlichen Zaubertränken. Von richtiger Magie hat sie keine Ahnung.«
Simons Augen verengten sich zu Schlitzen. »Aber du?«, fragte er mit leiser Stimme.
»Und ob. Ich war Lehrling beim besten Schwarzkünstler aller Zeiten. Er hat mich in alles eingeweiht. In alles!«
Simon blickte überrascht. Dann musste das DomDaniels alter Lehrling sein. Er hatte überlebt, obwohl er verbraucht worden war – an dem Burschen musste mehr dran sein, als es den Anschein hatte. Ein Gedanke formte sich in Simons Kopf. »Du musst ihn schrecklich vermissen«, sagte er teilnahmsvoll.
»Ja«, murmelte Merrin und bildete sich ein, dass er DomDaniel tatsächlich vermisste. »Ja, das tue ich.«
Simon musterte ihn noch einmal von Kopf bis Fuß. Er war nicht ideal, aber durchaus zu gebrauchen. Außerdem musste er dieses Fernrohr haben. »Suchst du Arbeit?«, fragte er.
»Arbeit?«, fragte Merrin verblüfft.
»Ja. Etwas Ähnliches wie das, was du früher gemacht hast.«
»Wie ähnlich?«, fragte Merrin argwöhnisch.
»Woher soll ich das wissen«, entgegnete Simon gereizt. »Ich weiß ja nicht, was du genau getan hast. Willst du die Stelle? Ja oder nein?«
»Merrin!«, schnitt Tante Zeldas aufgebrachte Stimme durch die Luft. »Lass dich nicht mit diesem Unhold ein. Komm sofort hierher!« Dann rannte sie in die Hütte zurück, wo es dringende Dinge zu erledigen gab.
Merrin beobachtete, wie ihre Flickengestalt verschwand. Wie konnte sie es wagen, ihn so anzubrüllen, die alte Hexe? Wieso bildete sie sich ein, dass er tun würde, was sie ihm sagte?
»Nun?«, fragte Simon ungeduldig. »Nimmst du die Stelle an?«
»Ja«, antwortete Merrin. »Ich nehme sie an.«
»Dann schlag ein«, sagte Simon.
Merrin nahm Simons ausgestreckte Hand, und bevor er wusste, wie ihm geschah, war ihm, als würde ihm der Arm aus der Gelenkpfanne gerissen.
»Aah!«, schrie er vor Schmerz, als seine Füße vom Boden abhoben und Simon ihn grob nach oben zog. Mit einiger Mühe gewann Simon gerade so viel an Höhe, dass Merrin nicht am Dach der Hüterhütte hängen blieb. Nur einer seiner baumelnden Füße verfing sich im Stroh, so dass er einen Schuh verlor. Voller Entsetzen und seinen schnellen Entschluss schon bereuend, blickte Merrin auf das Dach unter sich. »Hilfe!«, schrie er.
Sein Hilferuf drang durch den Kamin, fand aber nur den Weg in Wolfsjunges Fieberträume. Tante Zelda hörte ihn nicht. Sie war zu beschäftigt, um zu bemerken, dass der Junge, den sie vom Tod errettet und gesund gepflegt hatte, sie verließ, um dorthin zurückzukehren, wo er hergekommen war.